Digitalisierung heißt in erster Linie, Neugier und Lernbereitschaft wieder zu entdecken.

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"Algorithmen sind die Geheimwaffen von Unternehmen"

Im Gespräch mit Reinhold M. Karner über die Zukunft von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz beim Symposium des Clusters Wellness auf der FAFGA 2019.

Standortagentur Tirol: Die Zeit rast gefühlt immer schneller, der technologische Fortschritt gerade in der Welt der Informatik ebenso. Haben Sie noch die Übersicht, die Orientierung, wo wir stehen, was – objektiv – die Chancen und Risiken sind, wohin die Reise der nächsten Jahre führen kann?

Karner: Noch ja, ich beschäftige mich allerdings seit über 40 Jahren damit, ob im Business, in Think Tanks, dem Zugang zu den digitalen Giganten und weltführenden High-Tech Analysten. Aber es bleibt eine Herausforderung, denn die Fortschritte überschlagen sich. Digitalisierung und die mächtigen Algorithmen der Künstliche Intelligenz (KI) sind längst nicht mehr nur „Buzzwords“ (Modebegriffe), sondern die maßgeblichen Treiber der Umbrüche in der global vernetzten Businesswelt. Zunehmend auch in der Gesellschaft, hinein bis ins private Heim. Insofern sollte es wenig überraschen, dass alleine in den letzten fünf Jahren rd. 97 % sämtlicher Daten auf der Welt, ein gigantisches Ausmaß, erzeugt wurden. Manche Menschen befürchten angesichts solcher Entwicklungen, dass die digitale Revolution das Verschwinden der realen Welt hinter Strömen von Daten und Algorithmen bedeute.

Eine berechtigte Sorge?

Karner: Viele Leute, die häufig die Begriffe Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Algorithmen in den Mund nehmen, wissen– verständlicher Weise - nicht wirklich, wovon sie reden, wird doch die Thematik immer komplexer und trommeln die Protagonisten aus dem Silicon Valley mit ihren Marketing-Botschaften immer lauter. Und frecher. Der Digitalisierung, KI und deren Algorithmen eine große Hebelwirkung zuzusprechen ist okay, ihnen aber als solches Macht zuzusprechen, ist nicht ungefährlich.

Dennoch betrifft uns Digitalisierung in vielfältiger Hinsicht, nicht zuletzt als Individuum.

Karner: Wir sind heute an einem Punkt, an dem uns so manche Systeme irgendwo in der Welt besser kennen, als es unsere Mütter oder Partner tun. Mit nur 68 „Thumbs up“, also Likes auf Facebook, lässt sich erkennen, welche Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder politische Ausrichtung jemand hat, anhand von 70 Likes kann ein guter Algorithmus den User besser einschätzen als dessen Freunde, 150 Likes und der Algorithmus kennt sie besser als ihre Eltern und mit bereits mit 300 Likes hat der Lebenspartner gegen die Maschine keine Chance mehr, und schließlich genügen 350 Likes und die Maschine kennt den User besser als er sich selbst. Das Grundelement der neuen digitalisierten Welt im Zeitalter von Big Data ist der Mensch als Kunde, sprich, das personalisierte Datenpaket. Und man will eigentlich nicht herausfinden, was dieses Paket denkt, sondern wie sich sein Verhalten steuern und voraussagen lässt. Menschliches Verhalten ist umso besser prognostizierbar, je mehr es sich in Gewohnheiten bewegt, was meist der Fall ist. Deshalb sind diese das bevorzugte Objekt der Begierde der Verhaltensforschung in der Konsumgüterindustrie. Eigentlich sogar meist deren Goldgruben. Verhaltensspezialisten sind heute nicht mehr so sehr die Psychologen und Soziologen, sondern eher Statistiker und Informatiker. Denn künstliche intelligente Algorithmen übernehmen vermehrt die Hauptrolle. Mit digitalen Technologien werden heute sowohl weit mehr Informationen als auch deutlich schneller als je zuvor gesammelt, verarbeitet, und mittels KI-Algorithmen in neues Wissen übersetzt.

Das heißt also, dass nicht – wie oft zitiert – Daten der Rohstoff der Zukunft sind, sondern künstliche Intelligenz und Algorithmen, welche diese Daten interpretieren?

Karner: Daten sind zwar der Raketentreibstoff für die Digitalisierung und KI, sie selbst sind jedoch zutiefst dumm, man kann sie nur mit Statistik analysieren, korrelieren und vergleichen, aber man kann ihnen nicht Ursache und Wirkung entnehmen, dafür gibt es auch bislang keine Mathematik. Und ohne Ursache und Wirkung abzuhandeln, die große Frage des Warum zu beantworten, gibt es keine Intelligenz in der Realität. Daten können Ihnen sagen, dass sich die Menschen, die ein Medikament eingenommen haben, schneller erholt haben als diejenigen, die es nicht eingenommen haben, aber sie können Ihnen nicht sagen, warum. Daher versucht man es heute mit einer Art Semi-Intelligenz, maschineller Intelligenz, was nichts mit menschlicher zu tun hat. Und das sind die Algorithmen. Der Algorithmus ist idealerweise so etwas wie die Geheimwaffe eines Unternehmens. Die besten davon schalten sogar die Konkurrenz aus. Darauf beruht der Erfolg von Unternehmen wie Amazon, Google, Booking.com, Uber und Co. Sie ermöglichen Anbietern das Paradoxe, nämlich eine Klientel unpersönlich-persönlich zu bedienen. Das führt nicht nur in der Geschäftswelt zu wirklich erstaunlichen Resultaten. Deshalb werden „künstlich intelligente“ Algorithmen zunehmend zur heiß umkämpften Ware, zum streng gehüteten Firmengeheimnis. Dabei stützen wir uns auf Entscheidungen von Maschinen, kennen aber oft ihre Kriterien gar nicht. Selbst die KI-Gurus wissen meist nicht mehr, was sich in den künstlich neuronalen Netzen ihrer maschinellen Lernsysteme welche selbständig die KI-Modelle und Algorithmen „programmieren“, abspielt, es wurde zu komplex, undurchschaubar! Algorithmen sind also längst nicht mehr bloße Hilfsmittel. Sie sinken ein in unsere Entscheidungen, Wertungen, Urteile. Wir delegieren immer mehr menschliche Kenntnisse und Kompetenzen an Maschinen, allerdings bedienen diese Systeme nicht immer unbedingt unsere Interessen.

Wie wirkt sich das auf unser Wirtschaften aus?

Karner: Es entsteht eine radikal andere Welt! Bei der heutigen Geschwindigkeit sind fünf Jahre zu einer Ewigkeit geworden. Auch betreffend Entscheidungen. Geschwindigkeit, Überraschungen, plötzliche Richtungsänderungen in den riesigen globalen Märkten wirken sich routinemäßig auf das Schicksal sogar etablierter Unternehmen aus. Sie eröffnen allerdings auch Chancen für ganz neue Marktteilnehmer. Die (Business-)Welt wurde zu einer in Unstetigkeit, Planung ist schwierig. Konkurrenten entstehen fast unbemerkt, platzen plötzlich ins Marktgeschehen. Über 90% aller weltweiten Disruptoren haben zuvor noch nie in der Branche gearbeitet, die sie erfolgreich auseinandernehmen. Und sie haben in der Regel eine klare strategische DNA: „Bestmögliche digitale Kundenerfahrung von Anfang bis Ende – und das machen wir mit unseren Plattformen alles kosteneffizient und alleine, wir brauchen dazu nur das Internet, sonst keinen.“ Oft haben die Angegriffenen einen deutlichen Wissensrückstand grade in Bezug auf digitale Technologien und deren Möglichkeiten gegenüber den Angreifern, das macht sie zunehmend zu Außenseitern in ihren eigenen Branchen und Berufen und ermöglicht es den Disruptoren, sich rasch zu etablieren und wie ein Kuckuck Mitbewerber aus dem gemachten Nest zu drängen.

Wer also nicht mitmacht, ist definitiv draußen?

Karner: Viele der langjährigen Trends, die das Leben für Unternehmer, Entscheider, Manager und Investoren so berechenbar machten, sind zerbrochen, funktionieren nicht mehr – das ist das neue Normal! Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Viele Menschen, darunter auch Ökonomen, glaubten bisher von zwei Dingen in der Wirtschaft ausgehen zu können: Zum einen müssten Firmen, um zu wachsen, auch mehr Personal einstellen. Zum anderen sei es ein wichtiger Erfolgsfaktor, Mitarbeiter gut zu behandeln. Leider trifft heute beides immer weniger zu. Unternehmen können „Dank“ Digitalisierung und künstlicher Intelligenz nun auch erfolgreich, sogar global erfolgreich, werden, ohne Leute einzustellen oder diese gut zu behandeln. Bis 2025-2027 ist gemäß dem weltweit führenden IT-Marktforscher, Gartner Inc., zu befürchten, dass 60% der bestehenden KMUs nicht überleben, weil sie darin säumig sind oder gar versagen, die rasanten Veränderungen, die durch die gerade entstehenden digitalen Öko-Systeme entstehen, rechtzeitig zu erkennen, sich flexibel umzustellen und mitzuwirken. Entscheider, Unternehmer, Manager und Investoren sollten daher mutig alte Denk- und Entscheidungsmuster über Bord werfen, sich auf eine neue Realität einstellen.

Wie kann das gelingen?

Karner: Werfen wir zuerst einen Blick auf die drei tödlichen Fehler von KMUs auf deren digitaler Reise: Das ist erstens eine zu starke operative Fokussierung – es wird wenig Zeit für strategisches Denken und das Verstehen neuer Technologien aufgewendet. Der zweite Fehler betrifft Führung und Kultur im Unternehmen: Es wird krampfhaft an alten Gewohn- und Verhaltensweisen festgehalten, und signifikante Veränderungsbereitschaft erlaubt man nur, wenn man dazu gezwungen wird, dann ist es aber oft schon spät, eventuell zu spät. Und drittens ist es fatal, wenn zu viel Fokus auf die operative Führung anstatt auf Innovation, Disruption, Veränderung, Gewinnung und Engagement von „Talenten“ und Diversität im Team gelegt wird. Was können Unternehmer und Manager also tun, um sich vorzubereiten? Hierzu sehe ich zwei Felder, eines auf die Digitalisierung und KI bezogen, ein weiteres generell zum Wandel der Zeiten und des Zeitgeists: Betreffend Digitalisierung und KI empfehle ich fünf Maßnahmen zur Vermeidung des Worst-Case-Szenarios: 1. Leadership! Kräfte bündeln, nicht verzetteln, besser „nur“ 80 % erreichen als die unerreichbare Perfektion, oder untergehen. 2. Entscheiden: in welchem digitalen Eco-System möchten Sie mitmischen? 3. Zügige Modernisierung der IT und Digitalisierung, KI sukzessive wagen. 4. Vermeiden Sie aber auch überstürzte, massive Investitionen, ohne wirklich zu verstehen, ob diese für Sie richtig sind! und 5. Nutzen Sie die Positionierungs-Matrix, um Ihren Weg zu finden, sprich erkennen Sie, zu welchem der vier Typen von Firma Sie gehören oder morgen gehören wollen: Reformer, Traditionalist, Disruptor, Evolutionist – und dann bleiben Sie dabei, halten Kurs, und geben Gas! Aber mit Hirn –Herz und Verstand sozusagen - nicht mit Panik!

Das klingt einfach, aber ist es das auch?

Karner: Ja, wenn man sich auf eine grundlegende Ausrichtung, um die Zukunft – komme was immer wolle – gut zu meistern. Um notwendige Veränderungen voranzutreiben braucht es etwa die grundlegende Erkenntnis, dass jene, die ein Unternehmen führen, zuerst für sich selbst die Fähigkeit und Bereitschaft entwickeln müssen, neu und eventuell radikal anders zu denken, sich völlig anders zu verhalten. Ein weiterer Schlüssel ist, „wieder“ die Neugier und Lernbereitschaft wie in „jungen Jahren“ für alles und jedes zu erwecken, sich vorbehaltlos zu öffnen. Die Fähigkeit neue Gegebenheiten zu erkennen, zu verstehen, zu überwachen und dadurch besser durch „die raue See“ zu navigieren, wird hoch belohnt werden. Umgeben Sie sich außerdem mit den richtigen Leuten für diese neuen Gegebenheiten! Beides, die Vielfalt (Diversity) sowie Jugend sind hierbei gute Zutaten, sozusagen die „richtigen Gewürze“. Agilität und Fitness sind weitere wichtige Eigenschaften, um in diesen Umbruchszeiten „obenauf“ zu bleiben. Am wichtigsten aber ist, der Versuchung zu widerstehen, überall nur Probleme und Gefahren zu sehen, anstatt der Chancen-Nutzung stets den Vorrang einzuräumen. Optimismus wird einem helfen zu obsiegen! Die immensen Umbruchskräfte richtig genutzt, wird die Welt in zehn und mehr Jahren zu einer besseren machen! Jene die das Ausmaß, die Tragweite dieser Veränderungen frühzeitig erkennen und dem Rechnung tragen, werden zu den großen Gewinnern gehören und können mitgestalten, um die Welt und unser aller Zukunft zum Positiven zu verändern!

Zur Person:
Reinhold M. Karner (Jahrgang 1958, wohnhaft in Tirol/Österreich, Valletta/Malta und London/UK) ist seit über 40 Jahren Unternehmer im Bereich Informatik und Managementberatung sowie weltweit vernetzt mit den Protagonisten der Computer-, IT- und Digitalisierungsszene. Als Fellow von multinationalen Think Tanks, Vorreiter und Wissenschaftsjournalist für High-Tech Trends und Entrepreneurship ist er auch ein international gefragter Keynote-Speaker. Er fungiert zudem multinational in zahlreichen Unternehmen und Branchen als Chairman/Aufsichtsratsvorsitzender (5x), als Beirat/Aufsichtsrat/Non-Executive Director (12x) und als vielfacher Mentor.

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